Buchtipp - Ingeborg Siggelkow (Hrsg.): Gedächtnisarchitektur

"Gedächtnisarchitektur - Formen privaten und öffentlichen Gedenkens" heißt ein kleiner Sammelband, der - herausgegeben von Ingeborg Siggelkow, im Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main im Jahr 2001 erschienen ist.
Das Thema dieses schmalen - aber inhaltsreichen Bandes - ist immer noch aktuell: Die vielfältigen Formen des Gedenkens. Der Band ist zwar bereits 2001 erschienen, doch die gegenwärtigen Diskussionen beispielsweise zum öffentlichen Gedenken für im Dienst getötete Angehörige der Bundeswehr zeigen die Brisanz.

Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Aufsätzen, die so unterschiedliche Themen wie „Das endliche Fleisch und das unendliche Leben“ (Joachim Wossidlo), „Grabmäler als Ausdruck individuellen Gedenkens“ (Thomas Ratzka), „Frauen – Mütter – Frieden“ (Insa Eschebach), „Das Holocaust-Mahnmal in Berlin“ (Volker Kirchberg), das Denkmal von Dani Karavan für Walter Benjamin in Port Bou (Stefanie Endlich), „Zimbabwean Sculpure“ (Susanne Lanwerd) oder die Gesellschaftsgeschichte des Hotels Adlon in Berlin (Waltraud Schade) behandeln. Der Band schließt ab mit einem Aufsatz der Herausgeberin über "das Denkmal im öffentlichen Raum" (Ingeborg Siggelkow).

Der Schreibstil ist flüssig und unterhaltend. Damit wurde vermieden, was wissenschaftliche Literatur leider allzu oft auszeichnet – nämlich Langeweile. Dadurch, dass die einzelnen Artikel nur lose miteinander verbunden sind, ist eine anregende Verschiedenartigkeit entstanden.

 

Sicher wird nicht jeder Leser jeden Aufsatz mit demselben Interesse lesen – das haben Aufsatzsammlungen nun mal so an sich.
Die Gemeinsamkeit besteht jedoch aus der Erkenntnis, dass die "Bedeutung" von Denkmälern, Mahnmalen und Gebäuden in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedlich wahrgenommen wird und dass sich "Bedeutung" mit der Zeit ändert. Darauf folgt die weitere Erkenntnis, dass Zeugnisse früherer Zeiten eine umfassende „Beziehungsarbeit“ zur Gegenwart benötigen, um frühere Interpretationen und deren gesellschaftlichem Umfeld deutlich zu machen.
Man denke nur an die vielen Denkmäler zu den Befreiungskriegen und dem ersten Weltkrieg, die den Betrachter heute eher befremden als „gedenken“ lassen.

Der erste Aufsatz von Joachim Wossidlo beschäftigt sich mit „Leichen“ – und den Umgang mit ihnen. Zunächst beschreibt er eine - nach seiner Meinung immer noch vorhandene - Tabuisierung des Todes, die auch durch den relativ offenen Umgang (Film, Fernsehen, Messen etc.) nichts von ihrer Wirkung verloren hat. Er betont jedoch, dass sich das eigentliche Tabu auf den Leichnam, den toten Körper, den „Kadaver“ bezieht. Hier beschreibt Wossidlo die Ambivalenz der Faszination an „Leichen“ (im Film etc.)  - und die Realität im Umgang mit ihnen im Zusammenhang mit Bestattung, Trauerfeier etc.

Thomas Ratzka beschäftigt sich im folgenden Aufsatz mit „Grabmälern als Ausdruck individuellen Gedenkens“, am Beispiel des St. Matthäus-Friedhofes im Berliner Bezirk Schöneberg. Den Schwerpunkt der Betrachtung bilden zwei Grabanlagen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Wandgrab für Karl Wiemann, 1895 erbaut und das Figurengrabmal für den Komponisten Xaver Scharwenka von 1924/25). Interessant an diesem historischen Innenstadtkirchhof ist seine Lage im ehemaligen „Geheimratsviertel“ im Tiergarten. Hier entstanden bedeutende Grabmäler, an denen die Entwicklung von Grabmalstypen gut nachvollzogen werden kann.
So können die ab der Gründerzeit entstandenen großen historistischen Grabstätten, insbesondere die Erbbegräbnisse einflussreicher Familien, noch heute betrachtet werden. Dass das Figurenmonument Scharwenka eigentlich bereits eine Ausnahme darstellt, macht die Betrachtung solcher „Denkmäler“ doppelt interessant. Ausnahme deshalb, weil ab 1900 die so genannte Friedhofsreformbewegung zu einem rapiden Rückgang des plastischen Figurenschmucks auf Friedhöfen führte. Ratzka betont, dass besonders nach dem Ersten Weltkrieg derlei Begräbnisstätten verschwanden – bis heute. Die schlichteren „Reformsteine“ traten damals ihren Siegeszug an und beendeten damit eine lange Phase einer bedeutenden Sepulkralkultur.

Im folgenden Beitrag beschreibt Insa Eschebach unter dem Titel „Frauen - Mütter – Frieden“ die Entstehungsgeschichte der „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte „ Ravensbrück im Bundesland Brandenburg. Sie untersucht die Gedenkstätte in ihrer Frühphase und akzentuiert ihre Fragestellung auf den Aspekt der Mütterlichkeit.
Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers befindet sich heute eine Gedenkstätte. Nachdem das ehemalige Lagergelände von der sowjetischen Armee bis 1993 als Garnison der rückwärtigen Dienste genutzt wurde, konnten Teil-Bereiche des Lagergeländes, wie der ehemalige Zellenbau, die ehemalige SS-Kommandantur - heute Verwaltungsgebäude der Mahn- und Gedenkstätte, beherbergt die Hauptausstellung - und Außenflächen am See schon ab Mitte der 50er Jahre bzw. ab 1983 in die Gedenkstätte mit einbezogen werden. In den ehemaligen Aufseherinnenunterkünften befindet sich heute eine Jugendherberge und Jugendbegegnungsstätte. Interessant ist, dass die erste Gedenkstättenanlage auch das Ziel verfolgte, den „Frauencharakter“ des Lagers hervorzuheben – unter anderem mit der Skulptur „Tragende“ von Will Lammert und der Müttergruppe „Ravensbrück“. Das Gegenbild zu der dem Faschismus erlegenen Frau sollte das der „guten Mutter“ sein.

Volker Kirchberg thematisiert das Projekt „Holocaust-Mahnmal in Berlin“ – Zwischen öffentlichem Auftrag und privater Erfüllung.
Denkmal für die ermordeten Juden Europas, kurz „Holocaust-Mahnmal“ genannt, soll als Mahnmal für die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus im Holocaust ermordeten Juden dienen. Zwischen 2003 und Frühjahr 2005 wurde das Bauwerk im Zentrum Berlins auf einer etwa 19.000 m² großen Fläche in der Nähe des Brandenburger Tores errichtet.
Da die Hauptaspekte dieses Artikels mittlerweile selbst „historisch“ sind, ist dieser Beitrag für den heutigen Leser eher der einstigen Debatte um das Mahnmal zuzuordnen. Die einleitenden Fragen, zum Beispiel, welche Wirkung dieses Mahnmal auf die Bevölkerung, die Politiker, die Anwohner etc. haben wird, lässt sich heute – mit gewissem zeitlichem Abstand – sagen.
Es ist aber sehr aufschlussreich nachzulesen, die die Ambivalenz von „öffentlich „ und „privat“ einst diskutiert wurde.
Der Förderkreis um Lea Rosh erklärt das Denkmal zum Kenotaph und vergleicht es mit Kriegerdenkmälern und Soldatenfriedhöfen: Es sei nötig, weil die meisten ermordeten Juden kein eigenes Grab hätten. Daran scheiden sich noch heute die „Geister“. Eine grundsätzliche Kritik findet sich in der Art und Weise der Werbung für einen beliebigen Denkmalneubau, der in Deutschland angesichts einer Vielzahl authentischer Bauten und Gedenkstätten völlig unnötig sei.

Stefanie Endlich beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit den „’Passagen’ für Walter Benjamin im Kontext der aktuellen Denkmals-Diskussion“.
Im Kontrast zur teilweise „lauten“ und überladenen Diskussion um das Holocaust-Mahnmal geht es hier um einen stillen Ort des Gedenkens an eine Person. Nach Endlich handelt es sich um ein Denkmal mit einem ungewöhnlichen Ansatz und mit einer besonderen künstlerischen Qualität, das die allgemeine Diskussion anregen kann.
Benjamins Grabstein befindet sich auf dem Friedhof von Portbou. Des Weiteren hat der israelische Künstler Dani Karavan in Portbou eine begehbare Landschaftsskulptur zum Gedenken Benjamins verwirklicht.
Walter Benjamin wurde auf dem katholischen Friedhof von Portbou, oberhalb der Grenzstadt, begraben. Der Friedhof grenzt direkt an ein Felskliff zum Meer. Auf dem Friedhof befindet sich zwar ein Gedenkstein, der aber kein Grab bezeichnet. Die sterblichen Überreste sind nicht mehr lokalisierbar.
Endlich weist auf den Entstehungsprozess des Denkmals und seine Schwierigkeiten hin: „Ein Lehrstück politisch-reglementierender Eingriffe in ein schwieriges Projekt und in eine nicht mit staatsrepräsentativen Vorstellungen konform gehende künstlerische Arbeit. Eigenständige Kunst im öffentlichen Raum ist immer wieder diesen Prozessen unterworfen. Zum Glück ist im realisierten Denkmal nichts mehr davon spürbar.“
Gerade hier und bei Benjamin spielt der authentische Ort eine essentielle Rolle. Walter Benjamin hat selbst das „Hier und Jetzt“ geprägt und hat die Aura eines Ortes betont. Es ist das Gegenteil von dem, was Endlich als „unkenntliche Überformung“ und „Inszenierung“ so mancher KZ-Gedenkstätten bezeichnet.

Susanne Lanwerd betrachtet in ihrem Aufsatz die Religion und Kunst in Zimbabwe („Zimbabwean Sculpture“) und dabei zwei Prozesse: Zum einen die christlichen Implikationen eines Gottesbildes und die damit verbundenen Vorstellungen eines höchsten Wesens innerhalb der traditionellen Religion und zum anderen die Bedeutung afrikanischer Kunst für die Vermittlung christlichen Glaubens. Relevant sind hierbei besonders die religiösen Vorstellungen der indigenen Bevölkerungsgruppen und wie diese das Leben bestimmen.

Waltraud Schade beschreibt in ihrem Beitrag den Aufstieg des berühmten Berliner Hotels Adlon – das eben auch immer ein „Denkmal“ für und in Berlin war und selbst Zeitgeschichte schrieb. Vornehmlich durch die vielen Geschichten zu Hotelgästen und Beschäftigen wird solch ein monolithisches Gebäude, wie es Hotels in der Regel sind, einzigartig. Das Hotel Adlon ist eines der luxuriösesten und bekanntesten Hotels in Deutschland. Es liegt in der Dorotheenstadt im Ortsteil Mitte an der Straße Unter den Linden direkt am Pariser Platz. Eröffnet wurde das Hotel im Oktober 1907. Der Originalbau wurde Ende des Zweiten Weltkriegs teilweise zerstört, nur ein Seitenflügel konnte bis zum endgültigen Abriss im Jahr 1984 weitergenutzt werden. Der Neubau an der Originalstätte wurde am 23. August 1997 eröffnet.

Abschließend beschäftigt sich die Herausgeberin Ingrid Siggelkow mit dem „Denkmal im öffentlichen Raum: Kunstwerk und politisches Symbol“. Anhand von sechs Beispielen wird dieses Symbolik versucht zu typisieren: An der „Siegessäule“, der „Lenin-Statue“, dem „Bismarck-Denkmal“, dem „Mahnmal T 4“, der „Reichstagsverhüllung“ und dem „Ampelmännchen“.
Siggelkow betont, dass eine Erweiterung des Denkmalbegriffs – dies wird an dieser Auflistung deutlich – nötig ist.
Um eine Diskussion zu diesem Themenkomplex anzuregen und zu unterstützen – dazu soll und kann der vorliegende Band beitragen.
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Die Herausgeberin: Ingeborg Siggelkow, Dr. phil., Soziologin, Lehrbeauftragte an der Universität Potsdam, der Hochschule der Künste Berlin und der Technischen Universität Berlin.

Gedächtnisarchitektur Formen privaten und öffentlichen Gedenkens
Reihe:  Kulturwissenschaften   Band 1 Erscheinungsjahr: 2001 Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2001. 130 S., 12 Abb.
ISBN 978-3-631-37472-6   br.
€  28.50

Peter Lang Verlag

 

 

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