Buchtipp - Tilman Jens : “Vatermord. Wider einen Generalverdacht”

Wir erinnern uns: Tilman Jens‘ Buch "Demenz. Abschied von meinem Vater“ erschien Anfang 2009 – und die heftige, teils sehr persönliche und unseriöse Kritik, ließ nicht auf sich warten (siehe auch die Besprechung bei Sargsplitter unter http://www.sargsplitter.de/comments.php?id=-buchtipptilman-jens-demenz-abschied-von-meinem-vater_0_7_10_C39)
Er habe seinen Vater, Walter Jens, „vorgeführt“, „einen Wehrlosen vom Sockel gestürzt“ und „literarischen Vatermord“ begangen – so der Vorwurf an den „feigen Filius“, den „missratenen Spross“. Dennoch gab es Ermutigung und das Lob für sein „bewegendes“, „bestechendes“, „gelungenes“ Buch.
Es kann und soll hier nicht der Ort sein, das Buch in allen Einzelheiten zu analysieren – es muss gelesen werden.

Tilman Jens hat ein wichtiges (zweites) Buch wider die Tabuisierung eines Krankheitsbildes geschrieben, das trotz (oder wegen?) der gesellschaftlichen Brisanz ein Schattendasein führt. Welche persönlichen Umstände (z.B. ein lang verschwiegener Parteieintritt in die NSDAP) auch ursächlich für eine Demenz sein können – die Tatsachen zählen. Und dies am Beispiel von Walter Jens zu veranschaulichen -  einen der bedeutendsten Geister, die Deutschland je hatte, ist außerordentlich. Und verdient Respekt.

Zum Autor:
Tilman Jens, geboren 1954, lebt als Journalist in Frankfurt am Main. Buchveröffentlichungen über Uwe Johnson und Mark Twain. Autor von »Goethe und seine Opfer«.Regelmäßige Arbeit für die Kulturmagazine der ARD. Zahlreiche Fernsehdokumentationen für die Kulturmagazine von ARD und 3sat/Kulturzeit.

Tilman Jens
Vatermord. Wider einen Generalverdacht
192 Seiten, Geb.
ISBN: 978-3-579-06870-1
17,95 € [D]

Gütersloher Verlagshaus

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Der Vorwurf des „Vatermordes“ ist besonders arglistig - und die wahrheitswidrige Bezichtigung ein Straftatbestand. Auf eine Klage vor Gericht hat Tilman Jens dennoch verzichtet. Die Antwort ist stattdessen das Buch. Aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert Jens darin das brisante Delikt, für das er beschuldigt wird.
Er sei „von weiten Kreisen des deutschen Feuilletons zur Fahndung ausgeschrieben“ und als „geltungssüchtiger Judassohn“ diffamiert worden, dem „Blut an den Händen“ klebe. Daher nun die ebenfalls öffentliche Verteidigung anstelle von Unterlassungserklärungen, wie er betont. Und es war die Heftigkeit, die Tilman Jens wohl überraschte und es nahezu unausweichlich machte, diese Antwort zu formulieren. Sonderbarerweise wurden die entsprechenden Passagen in den Memoiren von Inge Jens („Unvollständige Erinnerungen“) nicht attackiert – weshalb auch? Die Empörung der Zeit-Literaturredakteurin Iris Radisch mit dem Tenor: „Warum schützt den Vater niemand vor seinem Sohn?“ ist somit völlig verfehlt. Frau Jens wäre einzig ermächtigt dazu.
Für Tilman Jens ist die Krankheit keine Schande. Vielmehr ist es das Verschweigen und Wegsehen innerhalb unserer Gesellschaft, die ignoriert, dass hunderttausende alter Menschen ein ähnliches Schicksal erleiden müssen. Tag für Tag.

Im Kapitel „V. Familiensprechstunde“ äußert sich Jens über seine Kollegen: „Die Probleme der Kollegen möchte ich haben (dies bezieht sich auf die 68er-Überzeugung, dass man zu seinen Eltern eine „gleichberechtigte“ Stellung einnehmen und diese mit Vornamen ansprechen sollte. Anm. des Rez.). Wir, die Familie, die langjährigen Freunde, müssen Abschied nehmen von einem Mann, der noch lebt, der gepflegt, in Windeln gelegt werden muss, der eher konfabuliert, als dass er in für uns erkennbaren Zusammenhängen spricht, der scheinbar unvermittelt weint oder lacht – und, selbst wenn ihm elend zu Mute ist, einen gesegneten Appetit hat. Irgendwann wird er tot sein. Aber das wird nur der Schlussakkord eines langen, langen Trauermarsches sein.“

An anderer Stelle schildert Jens eine Szene am gemeinsamen Esstisch im Herbst 2009. Sein Vater ist den Tränen nahe und klagt. Jens erinnert sich: „Er will sterben, sagt er. Er sagt es immer wieder.“ Der Sohn nimmt die Hand seines Vaters und meint: „Aber wir können Dich doch jetzt nicht einfach töten.“ Der Vater blinzelt und sagt nur „Schade“ und lacht dabei – „und schiebt sich vergnügt ein frisch gebackenes Stück Butterkuchen in den Mund. Mir läuft es kalt über den Rücken. Dann lache ich mit.“
So oder ähnlich spielen sich tagtäglich Szenen bei tausenden Betroffenen ab – zu Hause, in Pflegeeinrichtungen.


Pressetext: Vatermord von Tilman Jens
„Ja, ich hör mit blutgem Beben,
Wie der ewge Richter spricht:
Allen Sündern wird vergeben –
Nur dem Vatermörder nicht.“
Franz Grillparzer, Die Ahnfrau, Trauerspiel, 1817

Eine Spurensuche in der Antike, auf der Bühne und im wirklichen Leben
„Bei genauerer Betrachtung all der vertrackten Ödipus-Dramen im Leben wie auf der Bühne, fällt auf, dass die Sprösslinge meist guten Grund zum Hass auf ihre Alten hatten. Und wenn sie ihre Wut unterdrückten, dann war der Weg in die Selbstzerstörung oft nicht weit. Hatte Walter Hasen-clever einen verständigen Vater, war Hans Frank ein Menschenfreund? Viel Interesse hat Robert Havemann an seinem Flori nicht gehabt – und der Koloss Siegfried Unseld brachte seinen Sohn, nicht eben nobel, um die versprochene Zukunft. Goethe hat seinen August zum Haussklaven gemacht, Thomas Mann in Unordnung und frühes Leid seinen Klaus wie einen Nasenbären durch die Manege geführt. Das alles macht die Söhne nicht schon zu Widerstandshelden, aber vielleicht begreifbarer doch, in ihrer Traurigkeit, in ihrem Zorn, ihrer Verzweiflung. Kein Vatermord ohne Motiv!“


In seinem neuen Buch unternimmt Tilman Jens eine atemberaubende tour d’horizon durch die reichen Gefilde gescheiterter Vater-Beziehungen und charakterisiert dabei facettenreich ein Delikt, das unbotmäßigen Söhnen gern öffentlichkeitswirksam unterstellt wird: Vatermord. Ein besonders perfides, allseits verabscheutes Verbrechen.  Die wahrheitswidrige Bezichtigung ist eigentlich ein Straftatbestand. Und eben hier wird Jens’s faszinierende Recherche zur autobiographischen Erkundung. Für sein erfolgreiches Buch »Demenz«, die Beschreibung der Krankheit seines Vaters, hat Tilman Jens heftig Prügel, Häme und wirre Anschuldigungen in den deutschen Feuilletons einstecken müssen. Er habe seinen Vater, Walter Jens, „vorgeführt“, „einen Wehrlosen vom Sockel gestürzt“ und „literarischen Vatermord“ begangen – so der Vorwurf an den „feigen Filius“, den „missratenen Spross“, den „Mördersohn“. Viel justiziable Ehrabschneiderei! Jens hat dennoch von einer Klage vor Gericht abgesehen – und antwortet stattdessen mit einem weit über den eigenen Fall hinausweisenden Plädoyer wider einen Generalverdacht: „Die Vatermordkeule ist eine altbewährte Waffe aus der Asservatenkammer der Küchenpsychologie.“

Gütersloher Verlagshaus

 

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