Buchtipp - Michael Heinlein : “Die Erfindung der Erinnerung”

Michael Heinlein
Die Erfindung der Erinnerung
Deutsche Kriegskindheiten im Gedächtnis der Gegenwart

„Erinnerung“ und „Gedächtnis“ haben seit Jahren Konjunktur, insbesondere im Kontext der Holocaust-Forschung der letzten Jahre. Hingegen sind die „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“ erst seit kurzer Zeit in der öffentlichen Diskussion um die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges und in Anbetracht des hohen Alters der letzten Zeitzeugen. Bedeutende Verbände wie der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. haben sich zwar schon immer dieses Themas angenommen, nur hat die Öffentlichkeit dies nur beiläufig zur Kenntnis genommen.
Seit dem sich auch die Wissenschaft (Historiker, Soziologen, Psychologen) dafür interessiert, wird diese lang vernachlässigte Thematik zunehmend für die Öffentlichkeit interessant – oder auch umgekehrt, wenn man an die wichtigen Bücher von Sabine Bode denkt: „Die vergessene Generation
Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ und „Kriegsenkel - Die Erben der vergessenen Generation“.
Beides wichtige Bücher nach langen Jahren des Schweigens. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter spricht von einer „verschwiegenen, unentdeckten Welt“. Mit den Holocaust-Opfern habe man sich eingehend beschäftigt, mit der Kriegskindergeneration nie. Ebenso betrifft dies die Generation der Kinder der Kriegskinder. („Kriegsenkel“), die Generation der zwischen 1960 und 1975 Geborenen, die jetzt sich selbst und die eigene Familie besser verstehen will.
Eine der wesentlichen Fragen dabei: Wie ist es möglich, dass eine Zeit, die über 60 Jahre zurückliegt, so stark in ihr Leben als nachgeborene Kinder hineinwirkt?

transcript-verlag.de

image

 

Michael Heinlein geht in seinem Buch der „Kriegskinder-Generation“ nach. Er spricht von der „Entdeckung der Kriegskinder“, die im Rahmen einer Erinnerungseuphorie immer öfter gefragt sind (nicht unbedingt gefragt werden). Heinleins Interesse zielt auf die Frage, auf welche Weise und in welchen Zusammenhängen sich die öffentliche Erinnerung an deutsche Kriegskindheiten entfaltet.
Heinlein weist darauf hin, dass einer der Hauptgründe des „großen“ Erinnerns im sich abzeichnenden Umbruch innerhalb der Erinnerungslandschaft besteht. Die Zeitzeugen, die noch persönliche Erfahrungen am Zweiten Weltkrieg haben, versterben nach und nach; damit droht das Gedächtnis dieser Generation verloren zu gehen. Dies wiederum führt seit geraumer Zeit zu einem Mediendiskurs in Print, Film und Funk. Denn die erinnernde Zeitzeugen-Generation betrifft eine beträchtliche Anzahl von Personen: Die Anzahl der zwischen 1930 und 1945 Geborenen beträgt ca. 14 Millionen!
Die Etablierung eines kollektiven Bewusstseins bezüglich „Kriegsgeneration/Kriegskinder/Kriegsenkel“ hat auch einen finanziellen Aspekt, denn entsprechende Verbände und Institutionen können nur durch Mitgliedsbeiträge und Spenden dieser Klientel existieren. Spenden und Mitgliedschaften der Kriegsgeneration waren lange Zeit sicher – dies wird sich in den folgenden Jahren ändern.
Das Verdienst Heinleins ist auch, dass er das „medikalisierte Gedächtnis“ beschreibt: Auch in der aktuellen Trauerforschung fängt man langsam an, sich der Kriegskinder – und Kriegsenkel-Generation – zu widmen. Denn Traumata wirken bis in die nächste und übernächste Generation hinein und können Auswirkungen haben, die bisher beständig vernachlässigt wurden. Den wechselseitigen Prozess, „der die Herstellung von Trauma als einer individuellen Krankheit mit der Herstellung von Subjektivität und Erinnerung verknüpft“, wird von Heinlein mit dem Begriff „Individualisierung“ bezeichnet. Es können lebenslange Folgen früherer Ereignisse wie Posttraumatische Belastungsstörungen, Angst- und Panikzustände, Beziehungs- und Bindungsstörungen oder Depressionen dazu zählen. Darüber hinaus aber auch schwer abgrenzbare Verhaltensweisen wie Sparsamkeit, Vorausplanen, Altruismus, das Streben nach Anerkennung und Beachtung. Daher ergibt sich für diesen Personenkreis besonders im Alter ein hohes Risiko der psychischen Erkrankung.
Eindrucksvoll schildet Heinlein ein Beispiel mit dem Titel „Wo sind meine Schuhe“?
Es beruht auf der gleichnamigen Autobiographie von Sigrid Baschek, in der ein prägendes Ereignis geschildert wird: Auf der Flucht 1945 verliert Sigrid Baschek ihre allesgeliebten Lackschuhe. Diesen Verlust wird sie ein Leben lang begleiten, wobei „Lackschuhe“ in der psychotherapeutischen Arbeit dann stellvertretend für Verluste aller Art stehen können. Es wird deutlich, wie die eigene Kriegskindheit als eine lebenslang prägende Erfahrung sichtbar – erzählbar – gemacht werden kann.

Diese und weitere eindringliche Beispiele sind es, die Heinleins Buch nicht als eine (weitere) soziologische Studie erscheinen lassen, sondern mit wirklichen, realen Erfahrungsberichten Praxisbezug herstellen. Daher ist die Lektüre, neben dem rein wissenschaftlichen Interesse, besonders denjenigen zu empfehlen, die mit diesem Personenkreis beruflich oder ehrenamtlich zu tun haben: Betreuer, Ärzte, Pflegekräfte, Mitarbeiter entsprechender Verbände (u.a. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.) sowie Trauerbegleiter und Seelsorger.


Michael Heinlein (Dr. phil.) forscht und lehrt an der Universität München. Seine Arbeitsschwerpunkte sind kollektive Erinnerung, Kosmopolitisierung und Arbeit.

Michael Heinlein
Die Erfindung der Erinnerung
Deutsche Kriegskindheiten im Gedächtnis der Gegenwart
2010, 204 S., kart., 24,80 €
ISBN 978-3-8376-1609-5
transcript-verlag.de

 

 

Twitter Digg Delicious Stumbleupon Technorati Facebook Email
blog