Buchtipp - Marina Brandes: “Wie wir sterben. Chancen und Grenzen einer Versöhnung mit dem Tod”

Marina Brandes:
Wie wir sterben.
Chancen und Grenzen einer Versöhnung mit dem Tod

Kann man sich mit dem Tod versöhnen? Eine gewichtige Frage – vielleicht die wichtigste unserer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Derzeit aber eine, die - wenn überhaupt – lediglich philosophisch oder esoterisch beantwortet wird („Der Tod gehört zum Leben“, „Sterben lernen heißt leben lernen“ etc.). Sigmund Freuds Auffassung nach war dies die (einzige) Aufgabe der Kirche: Die Glaubenden mit dem Tod zu versöhnen. Und heute? Heute hat die moderne Industriegesellschaft besonders die Kirche (nicht unbedingt die Religion!) weit hinter sich gelassen, die Vorstellungen von Tod und Sterben haben sich gewandelt.

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Dieser wichtigen Frage geht Marina Brandes in ihrem Buch nach. Und es geht dabei ebenso um die agnostische, atheistische Sicht eines Sigmund Freud und den (christlichen) Glauben wie um das Handlungsfeld „Medizin“ und deren Helfer (Ärzte, Pfleger). Als Gegenentwurf könnte man dann die Institution „Hospiz“ nennen, die jedoch nach wie vor nur einer Minderheit vorbehalten ist.
Es existiert eine erstaunliche Diskrepanz zwischen dem täglich durch die Medien vermittelten (fiktiven) Sterben und Tod (zuletzt die „Seebestattung“ eines Osama Bin Laden) und der Realität in Pflegeheimen und Kliniken. Ganz zu schweigen von Todesfällen von Kindern und Jugendlichen, vor denen sich die Gesellschaft schamhaft abwendet. „Der Tod ist ein Problem der Lebenden“ – eine Aussage die ausdrückt, dass der Mensch Angst vor dem Tod hat, solange er lebt. Wenn ein Mensch stirbt, erfährt er den Tod nicht mehr: Er kann nicht er-lebt werden (S. 58). Also warum Angst haben vor dem Tod? Bei genauerem Hinsehen ist es jedoch die Angst vor dem Sterben, die den Menschen zu schaffen macht. Brandes beschreibt den „Gott-losen“ Tod der heutigen westlichen Gesellschaften, die eben nicht mehr auf christliche Rituale und Glauben bauen wollen und können. Stattdessen werden unter dem Gesichtspunkt der „Spiritualität“  neue Haltepunkte gesucht – und gefunden. Die Säkularisierung seit der Aufklärung hat ihr Übriges getan und führte letztlich zur Entkirchlichung“ und „Entritualisierung“ (S. 63). Das Sterben und der Tod sind in die „Zuständigkeit der Medizin und ihrer Anstalten“ (S. 63) geraten. Ob „Tod und Sterben“ überhaupt ein Thema der Medizin sind (bzw. sein sollten), wird derzeit gesellschaftlich diskutiert. Fachdisziplinen wie die Palliativmedizin, Palliative Geriatrie etc. haben sich den Umgang mit Sterbenden auf die Fahne geschrieben – um damit wiederum einen spezialisierten Bereich des Todes zu schaffen. Es wird heutzutage zu rd. 90% in Institutionen (Krankenhäuser, Heime) gestorben, die eigentlich damit überfordert scheinen.
„Den Tod als unbedingt zu verhinderndes Ergebnis einer Ursache-Wirkungs-Relation (nicht geheilte Krankheit=Tod) und nicht in erster Linie als natürliches Schicksal alles Lebendigen zu sehen, dränge viele Klinikärztinnen und –ärzte, selbst bei kaum realistischen Heilungschancen aggressivst zu therapieren und die Sinnlosigkeit solch inflationär angewandter Maßnahmen oft bis zuletzt nicht wahrhaben wollen.“(S. 89).
„Der Druck, korrekt zu sterben“ (S. 102) wird zukünftig – vorausgesetzt, die derzeitigen Entwicklungen halten an – zunehmen. Insbesondere das selbstbestimmte Sterben unter optimalen Bedingungen wird propagiert. Doch was heißt das? Vielleicht zeigt das Beispiel Gunter Sachs, wohin die Reise geht…

Die Autorin:
Marina Brandes studierte Sozialpsychologie und Soziologie an der Leibniz Universität Hannover. Sie ist heute in der Kommunalverwaltung tätig und arbeitet nebenberuflich als freie Autorin und Journalistin.

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Brandes, Marina
Wie wir sterben
Chancen und Grenzen einer Versöhnung mit dem Tod
2011. 144 S. Br.
ISBN: 978-3-531-17886-8

 

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