Buchtipp - Céline Lafontaine: “Die postmortale Gesellschaft”

"Die Geschichte des natürlichen Todes ist die Geschichte der Medikalisierung des Kampfes gegen den Tod"
Ivan Illich


In ihrem Buch untersucht die Soziologin Céline Lafontaine die Art und Weise, wie die (westlichen) Gesellschaften mit dem Tod umgehen und welche Veränderungen der Diskurse vom Altern und Sterblichkeit festzustellen sind. Lafontaine diskutiert diese Fragen mit Hilfe von Begriffen wie „Dekonstruktion“ und „Desymbolisierung des Todes“. Ersterer bezieht sich auf die mit der Aufklärung einsetzende Verwissenschaftlichung und Säkularisierung des Todes, letzterer auf die damit verbundene Internalisierung des Todes in den Körper des Einzelnen.
„Vom Stellenwert der Subjektivität bis zum wachsenden Einfluss der biomedizinischen Steuerung, von der demografischen Revolution bis zur Ich-Kultur, vom ‚Altersschreck‘ bis zu den Fortschritten der Technowissenschaften[…].“
Damit zusammenhängend stehen Aspekte wie die Medikalisierung und Hospitalisierung von Schwerkranken und Sterbenden und die Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens. Lafontaine stellt die ethisch bedeutsame Frage nach der Verantwortung: dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen einerseits und der gesellschaftlichen Verantwortung für den Anderen andererseits.

Céline Lafontaine ist Professorin für Soziologie an der Universität Montreal.


Céline Lafontaine
Die postmortale Gesellschaft
Aus der Reihe: Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften
2010. 196 S. Br.
ISBN: 978-3-531-16922-4
VS Verlag

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Der Begriff der „postmortalen Gesellschaft“ bzw. der „Postmortalität“ bezieht sich dabei auf den Willen, den Tod technisch zu besiegen. Somit ist der Satz: „Die Geschichte der menschlichen Gesellschaft lässt sich von daher als Gesamtheit von ‚Strategien‘ begreifen, dem Traum von der Unsterblichkeit Leben einzuhauchen“ (S. 14) ein ganz zentraler.
Dass der demografische Wandel eine der Ursachen der Postmortalität ist, verblüfft zunächst. Doch es wird deutlich, dass der Tod „bis ins 19. Jahrhundert hinein“ (S. 40) Teil des Alltagslebens war und insbesondere Frauen und Kinder (Neugeborene) verstarben. Damit ist das „Zurückweichen des Todes“ – welches gemeinhin mit dem Eintritt in die Moderne gekennzeichnet ist – eben zunächst auf den Rückgang der Kinder- und Müttersterblichkeit bezogen. In diesem Kontext entwickelte Paul Yonnet seine These zum kulturellen und sozialen Wandel mit dem Kern der Entwicklung der Individualität. Ohne den Rückgang der Sterblichkeit, so Lafontaine, hätte es den Prozess der Individuation nicht geben können.
Dies ist einer der – wenn nicht der – Hauptgrund, weshalb wir von einem Verschwinden des Todes in unserer Gesellschaft sprechen: Das Sterben, der Tod, verlagert sich immer mehr in den hochaltrigen Bereich - und wird zudem in Institutionen separiert, die sich mit immer professionellerem Personal um die letzten Dinge kümmern. Es ist daher nur allzu verständlich, dass der Mensch hilflos und verstört reagiert, wenn sich die erste Konfrontation mit Tod erst im Alter mit 50 Jahren ereignet. Ebenso wird der Tod eines unter Fünfzigjährigen als katastrophal, ungerecht und verfrüht beklagt. Dass dies noch vor einhundert Jahren selbstverständlicher war, macht die Entwicklung deutlich. Der daraus resultierende Unsterblichkeitsgedanke hat hier seine Wurzeln. Verstärkt wird dieses „Glaube“ durch die Anti-Aging und Wellness-Bewegung unserer Zeit: der Wunsch nach einem „auf ewig funktionsbereiten Körper“ wird immer größer - und scheint machbar (S. 100ff.). Lafontaine beschreibt den „Narzissmus neuer Prägung“ und weist darauf hin, dass das Altern grundsätzlich auf die rein physiologische Dimension reduziert wird: Nämlich „als degenerativer Prozess, der sich gegen die Integrität der Person richtet“ (S. 112). Daher wird der „Kampf gegen das Altern“ mit allen Mitteln aufgenommen. Dass dieser Kampf nur begrenzt erfolgreich sein kann, scheint auch durch den Anstieg der Demenz in höherem Alter deutlich zu werden: Hier gibt es nur wenige medizinische und therapeutische Möglichkeiten, um das Leben noch lebenswert zu gestalten. Auch das könnte ein Grund sein, weshalb sich immer mehr Menschen eine „informationelle Unsterblichkeit“ wünschen. Denn mit Hilfe der neuen Technologien ist ein „Weiterleben“ in der Cyberwelt durchaus möglich. Im Idealfall könnte man die gesamte Intelligenz des Menschen auf eine Festplatte herunterladen (Gehirn=Schaltzentrum) und den Körper – sofern gewünscht – durch die Kryonik erhalten (s. 144ff.). Der Wunsch und das Verlangen, den Tod unter Kontrolle zu bringen, wird die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte bestimmen. Es seid denn, die Gesellschaft(en) sind an einem natürlicheren, versöhnlicherem und integrativem Umgang mit Sterben und Tod interessiert.


Inhalt:
Der Horizont der postmortalen Gesellschaft - Die neuen Grenzen des Todes - Von der Entropie zum Selbstmord der Zelle: Die biomedizinische Dekonstruktion des Todes - Der regenerierte Körper: Der Kampf gegen das Altern und die verlängerte Lebenserwartung - Vom Ziel der Vervollkommnung zur Unsterblichkeit: Das endlose Leben des Posthumanen - Die Rückkehr des Todes: Ende des Lebens – Ende des Sinns


Céline Lafontaine
Die postmortale Gesellschaft
Aus der Reihe: Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften
2010. 196 S. Br.
ISBN: 978-3-531-16922-4

 

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