Buchtipp - Wilhelm Gräb: Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie g

Christlich-religiöse Deutung als Wegbegleiter auf der Suche nach Sinn.

Wilhelm Gräb ist Professor für Praktische Theologie an der Humboldt Universität zu Berlin und hat bisher einiges zum Thema "gelebte Religion" und theologische Sinndeutung im Alltag des Lebens publiziert. Es geht um konkrete Angebote gelebter Religion und theologische Impulse für die Praxis. Die grundsätzliche Frage vieler Menschen, die durchaus religiös eingestellt sind aber der Kirche als Institution nicht mehr vertrauen, ist, wie die Kirchen die Sinnsuche der Menschen auf- und ernst nehmen und den christlichen Glauben vermitteln können.
Im Vorwort des Buches schreibt Gräb, dass "an den Übergängen und in den Grenzerfahrungen der Lebensgeschichte auch in der modernen Kultur die Kirchen, ihre Gottesdienste, ihr Unterricht, ihre Seelsorge gesellschaftlich in besonderer Weise präsent. Mit ihren Kasualgottesdiensten, mit dem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, mit der Seelsorge in den Krankenhäusern sind die Kirchen und Gemeinden signifikante Orte religiöser Deutungskultur in der Gesellschaft."

Gütersloher Verlagshaus


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In der Komplexität und Unübersichtlichkeit der modernen Kultur suchen Menschen nach Orientierung und tiefer Verbundenheit. Kirche und Christentum können diesen Menschen auf ihrer Suche nach Sinn ein Angebot machen. Es gilt, im Resonanzraum der gegenwärtigen Kultur das Lebensdeutungsangebot des Glaubens neu ins Spiel zu bringen. Wie, warum und womit dies besonders an den Wendepunkten des Lebens geschehen kann, zeigt Wilhelm Gräb in diesem Buch.

Das Buch unterteilt sich in folgende Abschnitte:

I. Religion als lebensgeschichtliche Sinndeutung
1. Verständigung über Religion
2. Religiöse Sinndeutungen im Alltag des Lebens
3. Die humane Evidenz christlich-religiöser Lebensdeutung

II. Religion im Lebenslauf
4. Passagen und Übergänge: Die kirchliche Kasualpraxis
5. Die Taufe und ihr lebensgeschichtlicher Sinn
6. Die Konfirmation als lebensgeschichtlicher Übergang
7. Die kirchliche Trauung als Feier der Liebe
8. Die Bestattung und die Individualität gelebten Lebens

III. Religion in lebensgeschichtlicher Vermittlung und Thematisierung
9. Religionsunterricht als lebensgeschichtlicher Zugang zum Christentum
10. Lebensgeschichte als Thema der Seelsorge

Das Buch zeichnet sich durch einen gehobenen Schreibstil aus. Es ist sicherlich auch ratsam, eine gewisse Vorbildung in religiösen Fragen zu haben, um den Gedankengängen folgen zu können. „Wie die Kirchen die Sinnsehnsucht der Menschen aufnehmen und [...] vermitteln können, zeigt dieses Buch“, heißt es im Klappentext. Damit ist der Leserkreis wohl eher im kirchlichen Bereich zu suchen. Gleichwohl regt das Buch zum Nachdenken über unsere heutige religiöse/kirchliche Situation an.
In der Einleitung spricht Gräb von dem neu erwachten Interesse an der Religion. Besonders in Krisensituationen suchen die Menschen nach Halt und Orientierung.
„Die Religion in der modernen Kultur ist weithin vor allem eine Form lebensgeschichtlicher Sinndeutung“, so Gräb (S. 10). Doch ein gewisses Maß an Religiosität ist - im Gegensatz zur Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession – weit verbreitet wird oft mit dem Begriff der „Spiritualität“ umschrieben. Gräb zitiert hier Friedrich Schleiermacher, der bereits um 1800 von dem „religiösen Gefühl“ sprach, das die Menschen bewegt. Heute, so Gräb, übersetzt sich die tradierte religiöse Symbolsprache in andere kulturelle Sphären – vor allem der Kunst. Philosophische Sinnreflexionen (eigene „Weltanschauung“) vermischen sich mit christlichen Elementen, so dass Religiosität heute eher eine Weltanschauung ist.

Hier interessiert vor allem das Kapitel II. 8. „Die Bestattung und die Individualität gelebten Lebens“.
Gräb konstatiert eine starke Verunsicherung hinsichtlich der kirchlichen Bestattung und verweist auf den veränderten Umgang mit Tod und Sterben in unserer Gesellschaft. Dabei hat sich der Umgang mit Verstorbenen zu einem delegierbaren Problem entwickelt, an dem Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Bestatter und Friedhofsverwaltungen beteiligt sind. Der zeremonielle Aufwand wird immer weiter reduziert und anonyme Grabfelder wurden zu bestimmenden Orten der Trauer auf Friedhöfen. Dass hierbei verstärkt finanzielle Gründe eine Rolle spielen (nicht nur für einkommensschwache Bürger), wird von Gräb allerdings nur marginal erwähnt. Auch hier spielt die „Geiz-ist-geil“-Mentalität, das „Schnäppchen-Machen“, eine immer größere Rolle. Als bedenklich ist jedoch die Erwähnung eines großen Bestattungsunternehmens und seines Angebotes für Trauerfeiern zu werten, da es einseitig dafür „wirbt“, ohne auf alternative Möglichkeiten hinzuweisen. Dass aber mit repräsentativen Räumlichkeiten allein die umfangreiche Betreuung von Angehörigen nicht abgeschlossen sein kann, findet leider keine Erwähnung.
Unter 8.1. führt Gräb „zum Wandel der Bestattungskultur“ aus, dass sich die Bestattungskultur im Laufe der Geschichte vielfach geändert hat. In den darauffolgenden Ausführungen wird die Interpretation der Worte Jesu: „Folge du mir und laß die Toten ihre Toten begraben“ (Mt. 8,22).

In 8.2. geht es um „den Umgang mit Tod und Sterben in der modernen Kultur“ weist Gräb nochmals daraufhin, dass die Predigt am Grab der exemplarische Fall christlicher Predigt überhaupt ist. In den Großstädten wird der Tod (oder eigentlich die Bestattung?, Anm. d. Verf.) nicht mehr öffentlich inszeniert, weil zumeist anonym gestorben wird – so wie man gelebt hat. Das Delegieren an Spezialisten (Bestatter etc.) führt weithin zu der Annahme, dass der Tod in unserer Gesellschaft verdrängt wird. Gräb macht deutlich, dass diese Verdrängungsthese unhaltbar und überholt ist, da immer wieder verklärend auf frühere „bessere Zeiten“ verwiesen wird. Wie aber die Kritik an Philippe Aries’ Werk zeigt, waren Sterben und Tod in den vergangenen Generationen selten romantisch.
Das Sterben und der Tod – bzw. die Leiche – sind zum Zwecke der Systemrationalität und des Funktionsmechanismus unserer Gesellschaft ausgelagert worden. Das Versterben einer Person führt heute kaum mehr zu einer Verhaltensänderung der Beteiligten, die normalen Abläufe funktionieren weiter – „die Welt steht nicht mehr still“. Doch gleichzeitig ist es zu einer Intimisierung gekommen – die emotionale Betroffenheit verbleibt im privaten und Trauer wird nicht mehr öffentlich gemacht. Ebenso wird die schwierige Situation der seelsorgerischen Aufgabe von Pfarrern beleuchtet, die im Todesfall eines Gemeindemitglieds immer weniger über die Person und das Umfeld wissen. Denn bereits zu Lebzeiten nehmen die Kontakte - auch bei einer formalen Mitgliedschaft in der Kirche – immer mehr ab.

In 8.3 „Die kirchliche Bestattung heute“ wird versucht, die Predigt als Instrument der Verkündung zu beschreiben. Dabei „sollte die Predigt in die Relativierung dieser Welt und der eigenen Möglichkeiten in ihr führen.“ Dies hört sich einfacher an als es getan ist. Der Abschnitt ist in seinen Formulierungen scheint eher für ein theologisches Fachpublikum geschrieben und versucht, u.a. im Rückgriff auf Eduard Thurneysens Vortrag „Aufgabe der Predigt“ und den Worten Jesu „Laß die Toten ihre Toten begraben“ die kirchliche Bestattungshandlung zu verteidigen.

Auch im Abschnitt 8.4 wird auf die stärkende und stabilisierende Wirkung des kirchlichen Bestattungsrituals hingewiesen.  „Das Ritual hat eine Trostfunktion“ heißt es dort. Gleichzeitig weist Gräb auf die Verunsicherung und das Zurückschrecken vor diesen Ritualen hin. Der Rückzug ins Private führe letztlich dazu, dass die Menschen sich anonym bestatten lassen. Dass dabei aber auch andere Gründe eine Rolle spielen können (z.B. der finanzielle Aspekt) wird von Gräb nicht berücksichtigt. Das „Immer-Währende“ des Rituals bietet für viele Halt und Trost - für viele ist es „leere Vertröstung. Laut Gräb versucht die kirchliche Bestattung heute zu sagen, was die Auferstehungshoffnung bedeutet. Dies wird zunehmend schwieriger, da immer weniger Menschen einen Bezug dazu haben. Gräb spricht in diesem Zusammenhang
von der Gefahr des „frommen Geredes“, die besteht, wenn beim Begräbnis nur von „Auferstehung“, „ewigem Leben“ etc. gesprochen wird und die Lebensrealität aus den Augen verliert. Wenn dieser Widerspruch aber nicht artikuliert wird, gibt es auch keine Akzeptanz der „Bitterkeit des Todes.“ Wichtig ist, die Situation der Trauernden aufzunehmen und zu reflektieren.
Interessant ist der Streitpunkt, ob die Lebensgeschichte des Verstorbenen in der Predigt überhaupt eine Rolle spielen soll. Doch die Predigt soll(te) eine Deutung des Lebens sein – und damit auch der Lebensgeschichte. Das gelebte Leben dürfe nicht beschönigt, der Verlust aber auch nicht verharmlost werden, so Gräb. Die wahre und wirkliche Bedeutung der Predigt heutzutage ist aber, an das einzelne Leben zu erinnern – sollte es auch nach außen noch so bedeutungslos gewesen sein. Gräb weist daraufhin, dass die Predigt insbesondere ihre Bedeutung erhält, wenn es keine Trauergemeinde gibt. Das „ehrende Andenken“ wird auch dann gewahrt, entgegen der allgemeinen Anonymisierung unserer Gesellschaft. Hoffnung geben in einer Welt der Hoffnungslosigkeit, Hoffnung geben, dass „dieses Leben hier nicht schon alles gewesen sein kann.“

Es ist wichtig und interessant, wie Gräb in dem oben beschriebenen Kapitel die kirchliche Funktion - besonders zur Predigt – herausarbeitet und begründet. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass viele Predigten in der Praxis nur allzu oft die Trauernden aus dem Blick verlieren und mit ihrem Schmerz alleine lassen. Eine direktere, persönlichere Ansprache der Trauergemeinde wäre hier zu wünschen.
Die Kasualpraxis wird zukünftig ein immer wichtigerer Aufgabenbereich, den sich die Pfarrer unbedingt annehmen sollten.

Ein wichtiges Buch für den theoretischen Zugang zum Thema, das sich an einen theologisch /religiös (vor)gebildteten Leserkreis richtet.


Wilhelm Gräb: „Religion als Deutung des Lebens. Perspektiven einer Praktischen Theologie gelebter Religion“.
Gütersloher Verlagshaus, 1. Aufl. 2006, 207 S.,
EUR 19,95

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