Buchtipp - Nicola Bardola: Schlemm

Sterbehilfe und wie die nächsten Verwandten damit umgehen

Der Auftakt des Buches macht neugierig – und ist zugleich bedrückend:

„Das Telefon klingelt. Die Tochter schläft. Die Frau sieht im Wohnzimmer fern.
Mit dem Hörer in der Hand ist er sofort Sohn. Vor etwa einer Stunde hatte er seiner neunjährigen Tochter noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen.
Der Vater fragt, ob er den Termin wissen wolle. Es ist kein gewöhnlicher Termin, sondern eine Deadline. Der neunte Dezember.“

Mit dieser schonungslosen Zeitvorgabe beginnt für die Kinder eine neue Zeitrechnung. Und für den Leser das außergewöhnliche Dokument eines Abschieds.

Der Autor, Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, entwirft in seinem Roman ein ergreifendes Familienporträt, mit dem er einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um die Sterbehilfe leistet. Er arbeitet seit über 20 Jahren als Journalist und als Übersetzer in München. „Schlemm“ ist sein erster Roman.

Nicola Bardola erzählt in seinem Buch die Geschichte von Luca und seinen Eltern, die sich nach der Krebsdiagnose des Vaters für den gemeinsamen Freitod entschieden haben.
In einer autobiographischen Collage aus Erinnerungen, Briefwechseln und Zeitungsartikeln entwickelt Bardola ein außergewöhnliches Familienporträt.
Sensibel nähert sich der Autor den Figuren und ihren Geschichten, so dass trotz Reizworten wie Patientenautonomie und Sterbehilfe nicht oberflächlich argumentiert und polemisiert wird. Sehr differenziert setzt sich Bardola mit Alter, Sterben, Tod und freiem Willen auseinander.

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Luca und sein Bruder Reto waren im Grunde vorbereitet. Vor vier Monaten hatte ihr Vater, Paul Salamun, jede weitere Behandlung an seinem schweren Blasentumor verweigert. Der geniale Schweizer Bridge-Meister und Mathematiker Paul (der Romantitel bezieht sich auf den eingedeutschten Bridge-Terminus „Slam“) wollte sein Leben beenden und nicht „zum hilflosen Bündel“ werden –  seine Frau Franca entscheidet sich, ihm zu folgen. Sohn Luca Salamun – selbst Vater einer neunjährigen Tochter – spürt der Vergangenheit nach. Für Luca – wie für die anderen Kinder – werden die Monate bis zum festgesetzten Todesdatum der Eltern zur intensiven und teilweise schmerzlichen Auseinandersetzung mit sich selbst und den anderen Familienmitgliedern. Luca hofft, die Beweggründe Pauls und Francas zu begreifen, um seiner Tochter eines Tages erklären zu können, weshalb sich die Großeltern zum Freitod entschlossen haben.
Zwischen den beiden Söhnen und deren Familien entbrennen heftige Diskussionen. Christina, Lucas Schwägerin, ist strikt gegen das freiwillige Beenden des Lebens. „Wozu braucht es mehr Mut? Alt werden und bis zuletzt kämpfen oder frühzeitig Schluss machen?“ Sie hält die Angst der Mutter vor dem Altern lediglich für „das Problem einer besonders schönen Frau.“
Es wird philosophiert über den Umgang mit Sterben und Tod und bemüht dazu Montaigne, Jean Améry, Seneca und Franz Werfel. In nachdenklichem Ton verfasst Nicola Bardola das beeindruckende Requiem zu Ehren seiner Eltern, von denen er sich schon längst innerlich getrennt zu haben schien. Und - er lernt, den „Schlemm“ zu begreifen.
Die Zurückhaltung des Autors bringt dem Leser die Figuren sehr nahe: Nach ein paar Seiten befindet er sich so unmittelbar in der Geschichte und beginnt, die Positionen abzuwägen - als müsste er sich am Ende selbst entscheiden. Die fast erzwungene Beschäftigung mit dem Tod verschiebt die Einstellung zum Leben, bringt vermeintlich Bedeutungsloses in kausalen Zusammenhang und weckt Erinnerungen an längst vergangene Abschiede - die "kleinen Tode" im Leben.
So verliert der Tod nichts von seiner Opazität und Unfassbarkeit, obwohl die Kinder die Entscheidung der Eltern akzeptieren und sich mit dem Faktum „anfreunden“.

Ein gelungenes Debüt und ein beachtenswerter Beitrag zu einem wichtigen, gesellschaftlich relevanten - und leider immer noch tabuisierten - Thema.
Sehr empfehlenswert!

NICOLA BARDOLA: Schlemm. Roman. A1 Verlag, München 2005. 206 Seiten, 18,40 Euro.

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