Buchtipp - Claudia Wenzel: “Heil sterben - Alternative Ansätze für eine ganzheitliche Begleitung Ste

Claudia Wenzel:
Heil sterben : alternative Ansätze für eine ganzheitliche Begleitung Sterbender in Hospizarbeit und Palliative Care.
Der Hospiz-Verlag, 2014.

hospiz-verlag.de

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Wie ist es möglich, dass Menschen trotz körperlicher Krankheit heil sterben (können) und dann selbst der Tod zum Ereignis der Gesundheit wird? Pflegende und komplementäre PraktikerInnen in Hospizen haben diese Fragen im Rahmen des Forschungsprojektes „Alternative Versorgungsformen in Hospizarbeit und Palliative Care“ in Interviews und Gruppendiskussionen aufgeworfen, sich mit ihnen auseinandergesetzt und erste Antworten gefunden.

Was meint "Heilwerdung“? Einen seelischen Entwicklungsprozess, in dem Teile wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werden und an dessen Ende eine „Heilwerdung, um Abschied zu nehmen“, steht.
Schmerz kann auch verstanden werden als als Zugang zur „eigentlichen Dimension des Lebens“: Der Philosoph Hans-Georg Gadamer sieht im Schmerz einen Zugang zur „eigentlichen Dimension des Lebens“ und bringt diesen auch in Zusammenhang mit der Entwicklung des Menschen. „Die eigentliche Dimension des Lebens wird im Schmerz erahnbar, wenn man sich nicht überwältigen lässt. Hierin sehe ich auch die größte Gefahr des technologisierten Zeitalters, dass diese Kräfte unterschätzt werden und damit auch – verständlicherweise – unsere Fähigkeiten nicht mehr zur vollen Entwicklung gelangen.“ Dies kann letztlich nur individuell entschieden werden.

Die Frage nach der Schmerzfreiheit wurde in den vergangenen Jahren zunehmend bedeutsam. Nicht zuletzt durch die Diskussion um die Sterbehilfe, für die die Vermeidung von Leiden am Lebensende wesentlich ist. In diesem Kontext hat sich die Palliativmedizin nicht nur als medizinische Disziplin etablieren können: Sie konzentriert sich auf die bestmögliche medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Behandlung und Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen sowie ihrer Angehörigen.

 

Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit Leiden auch Entwicklungspotenzial in sich birgt bzw. Entwicklung mit sich bringt? Claudia Wenzel fragt danach, ob es gerechtfertigt wäre, einem Menschen diese Entwicklungsmöglichkeit (z.B. durch standardisierte Schmerzmedikation am Lebensende) zu nehmen?
Sicher ist dies schwer objektivierbar, denn Schmerz und Schmerzempfinden sind subjektiv. Inwieweit körperlicher und seelischer Schmerz trennbar sind bzw. sich beeinflussen, scheint in der Forschung noch ein Desiderat zu sein.
Der Palliativmediziner Kearney verwendet den Begriff des Seelenschmerzes ("soul pain"), um eine bestimmte Art des Leidens („suffering“) zu beschreiben, die von Menschen erlebt wird, die ihrem Tod nahe sind.


Interessant ist die Frage was es bedeutet, dass mittlerweile auch die Palliativmedizin den „Schmerz zum Feindbild erklärt hat und ein körperlich-schmerzfreies Sterben sich auch als Hauptanliegen in Hospizarbeit und Palliative Care zu etablieren beginnt?“, so Wenzel.

So beschreibt Andreas Heller, wie im Zuge der Institutionalisierung und Akademisierung der Palliativmedizin das verzerrte Bild entstand, dass „die größte Herausforderung des Sterbens in der Schmerzbekämpfung“ bestehe. „Die Sensibilität für die Vielgesichtigkeit des Schmerzes enthält konzeptionell die gesamte Philosophie der modernen Hospiz- und Palliativarbeit. (…) Immer geht es darum, die Betroffenen in ihren sozialen Bezügen und in der Gesamtheit ihrer menschlichen Existenz wahrzunehmen.“
Andreas Heller und Cornelia Knipping verweisen auf die Gefahr, die durch die Fokussierung auf den ‚total pain‘ besteht und die dazu führen kann (bzw. führt), dass die ursprünglich ganzheitliche Betrachtung des Schmerzes sich „zu einem technologisch verkümmerten ‚total pain management‘“ wandelt.
Für eine ganzheitliche Betreuung und Begleitung von Menschen an ihrem Lebensende braucht es ganzheitliche Paradigmen, die sowohl den Bedarf nach Schmerzmedikamenten wie jenen nach (alternativen) Zugängen berücksichtigen und anerkennen, durch die Leiden (im Sinne von „suffering“) gelindert wird.
Schmerzen können also in diesem Sinn auch in eine Tiefendimension des Seins führen, die von Betroffenen als Erleben von „ganz sein“ bzw. „heil sein“ beschrieben wird.

Das Buch ist ein gewinnbringender Ansatz, das Thema Schmerz anders als rein klinisch-medizinisch zu verstehen und vielleicht auch anzuregen, Schmerzen nicht grundsätzlich sofort und vehement (mit entsprechenden Therapien und Medikamenten) „wegzubehandeln“ - sondern zumindest partiell auch anzunehmen.


Lit.:
Heller Andreas, Knipping Cornelia (2007): Palliative Care – Haltungen und Orientierungen. In Cornelia Knipping (Hrsg.): Lehrbuch Palliative Care, 2. durchg. u. korr. Aufl. Bern: Huber, 39-48.

Heil sterben : alternative Ansätze für eine ganzheitliche Begleitung Sterbender in Hospizarbeit und Palliative Care / Claudia Wenzel
Der Hospiz-Verlag, 2014,
ISBN: 978-3-941251-58-8 kart.
EUR 29.99 (DE)

 

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