Buchtipp - Matthias Hoffmann: “Sterben? Am liebsten plötzlich und unterwartet”

Matthias Hoffmann
„Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet.“
Die Angst vor dem "sozialen Sterben"

Der Tod als Thema ist zwar in der Öffentlichkeit permanent präsent, doch die individuelle Beschäftigung bleibt nahezu aus. Und wenn, dann konzentriert sich das Interesse auf die Sterbephase: Man möchte nicht (lange) leiden und möglichst „plötzlich und unterwartet“ versterben. Das Sterben hat sich im zwanzigsten Jahrhundert mit den Fortschritten der Medizin und Pharmazie als eigene Phase vom Tod entkoppelt
Damit verschiebt sich die Angst früherer Jahrhunderte vor dem Tod hin zu einer Angst vor dem Sterben.
Im Zuge der Säkularisierung und Individualisierung der (deutschen) Gesellschaft sind christliche Vorstellungen einer Existenz nach dem Tod kaum mehr existent – eher spirituelle, teils esoterische Gedanken spielen hier eine Rolle.
Über Jahrhundert galt der Angst des plötzlichen Versterbens die ganze Aufmerksamkeit: Nichts wäre schlimmer gewesen, unvorbereitet zu sterben.
Aktuelle soziologische Umfragen zeigen aber das Gegenteil: Die meisten Menschen möchten „plötzlich und unerwartet“ sterben. Heute wird eine lange (schmerzhafte)Phase des Sterbens gefürchtet, verknüpft mit Autonomieverlust und körperlicher Entstellung. Viele Menschen möchten in Ihrer letzten Lebensphase ihre Eigenständigkeit nicht verlieren - Wünsche nach Sterbehilfe werden daher immer öfter geäußert.

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Das Buch von Matthias Hoffmann beschäftigt sich mit der Angst vor dem sozialen Sterben – eine Angst, die mit der Institutionalisierung und Ökonomisierung von Gesundheit und Pflege zunimmt. Denn gestorben wird heutzutage zu fast 90% in Institutionen: In Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen. Neben theoretischen Grundlagen (Nassehi/Weber, Elias, Ariés) sind die zahlreichen Umfrageergebnisse aufschlussreich: U.a sind es Fragen nach Themen in der Ausbildung, die zu kurz (oder gar nicht) vorkamen, korrespondierend mit der Arbeits(un)zufriedenheit. Hier zeigt sich deutlich, dass es an Inhalten zu „Kommunikation“ und „Palliativmedizin“ mangelt. Die Kommunikation bezieht sich dabei sowohl auf die Gesprächsführung mit Patienten als auch mit Angehörigen. In der alltäglichen Praxis spiegeln sich diese Ergebnisse bei den Pflegekräften wider (S. 42ff.).
Auch die Frage der Sterbehilfe scheint bei vielen nicht eindeutig geklärt zu sein, was auch auf eine mangelhafte interne Kommunikation zwischen Leitung und Personal hindeutet. Ein großer Teil der Befragten (39%) würde zudem eine Organisation wie „Dignitas“ begrüßen (S. 52). Diese Ergebnisse sind letztendlich nicht überraschend, legt man die Erfahrungen des Pflegepersonals im Umgang mit Leid und Sterben zugrunde.
Hoffmann untersucht „Hospize“ in der Funktion des anderen, besseren Sterbens. Er beschreibt die Rolle der Hospize in der Lehrbuchliteratur und stationäre Hospize als „totale Institutionen“ (nach E. Goffman) – mit dem Unterschied, dass niemand gezwungen werden kann zu bleiben.
Aufgrund der Umfragewerte (20% der Befragten fürchten den Tod nicht, 80% haben Angst vor dem Sterben) zieht Hoffmann die Philosophie und Weltliteratur heran (Montaigne, Gottfried Benn, Leo Tolstoi, Heidegger und Philip Roth) um zu verdeutlichen, wie sich bestimmt geistige Entwicklungen bereits vor der wissenschaftlichen Erschließung verbreiten. Sicherlich eine subjektive Auswahl, die aber gewisse Grundströmungen verdeutlicht.
Sehr interessant ist dann abschließend die Regional-Studie (Trier-Saarburg) „Schwere Krankheit und Tod“, die versucht, bestimmte Themenkomplexe zu messen: „Schwere Krankheit“, „Pflegebedürftigkeit“, „Sterbebegleitung“ und „Sterbehilfe“. Diese Studie versteht sich als „Re-Study“ der bemerkenswerten Studie „Einstellungen zum Tod“ von Alois Hahn aus dem Jahre 1968. Grundsätzlich wird der Zusammenhang zwischen „Todkontakt“ (eigenes Erleben von Verlusten) und „Todesbewusstsein“ nochmals betont. Immer wieder interessant ist die Auseinandersetzung mit der vertrauten Verdrängungs- bzw. der Tabuisierungsthese, die im Buch nachvollzogen wird (Hahn-Nassehi/Weber), die sicher auch in den kommenden Jahren nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann.

Matthias Hoffmann
„Sterben? Am liebsten plötzlich und unerwartet.“
Die Angst vor dem "sozialen Sterben"
2011. 224 S. Mit 49 Tab. Br.
ISBN: 978-3-531-17704-5

Tipp:
Eine gute Ergänzung stellt das neue Buch von Michael Stolberg, "Die Geschichte der Palliativmedizin", dar. Dieses Buch verfolgt erstmals die Geschichte der Palliativmedizin von der Renaissance bis zur Gegenwart. Stolberg untersucht auch die Ausführungen von Sterbenden und ihren Angehörigen und beleuchtet den Umgang mit ethischen Fragen, die bis heute nichts von ihrer Dringlichkeit verloren haben.

Die Geschichte der Palliativmedizin
Kartoniert /Broschiert
303 Seiten
Mabuse Verlag 2011
mabuse-verlag.de

 

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